16. August 2022 | News | Interview

„Computergestützte Methoden sind wie eine 3D-Brille im Kino“

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MPIDR-Direktor Emilio Zagheni und sein Kollege Emanuel Deutschmann erklären im Interview, warum computergestützte Ansätze frischen Wind in die Migrationsforschung bringen. Ihre jetzt veröffentlichte Sonderausgabe “Computational Approaches to Migration and Integration Research: Promises and Challenges” sammelt sieben Beispiele bemerkenswerter Forschungsarbeiten in diesem Bereich.

Die Sonderausgabe wurde von Emanuel Deutschmann (Europa-Universität Flensburg), Lucas G. Drouhot (Universität Utrecht), Carolina V. Zuccotti (Universität Carlos III Madrid) und Emilio Zagheni (Max-Planck-Institut für demografische Forschung) herausgegeben und im Journal of Ethnic and Migration Studies veröffentlicht.

Professor Zagheni, wie wirken sich die Computertechnik und die digitale Revolution auf die Migrations- und Integrationsforschung aus?

Zagheni: Wenn ich darf, möchte ich diese Frage mit einem Vergleich beantworten. Jedes Jahr im Sommer, Mitte August, findet in Rostock eine große Segelveranstaltung statt, die Hanse Sail. Am MPIDR, direkt am Ufer der Warnow kann man dann ganz verschiedene Typen von Segelbooten beobachten: lange, kurze, historische und moderne. Eine Woche lang segeln sie zur Ostsee und zurück und bieten eine wunderbare Schau der Segelkunst. Wir können uns die Segelboote als Teilbereiche der Migrationsforschung vorstellen, die alle ihre eigenen Merkmale haben. Computergestützte Ansätze und die digitale Revolution sind ein frischer Wind, der alle Segelboote antreibt und Entdeckungen beschleunigt. Um in der Migrationsforschung an der Spitze zu bleiben, und zwar in allen Teilbereichen, muss man lernen, diesen Wind zu nutzen und seine Kraft in Segelgeschwindigkeit umzuwandeln. In dieser Sonderausgabe machen das interdisziplinäre Forschendenteams.

Sie haben ein aussagekräftiges Bild benutzt, um die Bedeutung computergestützter Ansätze zu unterstreichen. Welche konkreten Vorteile ergeben sich aus ihrem Einsatz?

Zagheni: In der Einleitung der Sonderausgabe diskutieren wir umfassend die Vorteile davon  computergestützte Ansätze und Digital Trace Data in die Migrationsforschung einzusetzen. Für eine vollständige Beschreibung möchte ich alle, die neugierig geworden sind, ermutigen das Paper zu lesen.

Einen entscheidenden Vorteil möchte ich aber gleich jetzt hervorheben: Sehr häufig gibt es einfach keine praktikablen Alternativen, um drängende Fragen zeitnah, in angemessener räumlicher Granularität und zum Zwecke der Weiterentwicklung der Migrationstheorie zu beantworten. Die Erweiterung des Werkzeugkastens der Migrationsforschenden um rechenintensive Methoden und Digital Trace Data ermöglicht es ihnen, bisher nicht bearbeitbare Fragen zu beantworten.

Herr Professor Deutschmann, wie immer muss es auch einige Hürden geben. Was sind die Nachteile?

Deutschmann: Es gibt in der Tat eine Reihe von Herausforderungen für Forschende, die rechenintensive Methoden nutzen. Manchmal sind wichtige Informationen, die in einer herkömmlichen Umfrage oder Befragung relativ leicht zu erheben sind, wie etwa die Staatsangehörigkeit oder die Einwanderergeneration, mit computergestützten Methoden und Digital Trace Data schwer zu ermitteln. Probleme ergeben sich auch aus der Tatsache, dass viele digitale Daten von Plattformen wie Facebook, Twitter und Google gesammelt werden. Ihre Nutzerinnen und Nutzer sind nicht unbedingt repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, was es oft schwierig macht, auf der Grundlage solcher Daten verallgemeinerbare Schlussfolgerungen zu ziehen. Außerdem entscheiden diese privaten Unternehmen autonom, wie viele Daten sie zur Verfügung stellen und mit wem sie diese teilen. Diese Machtkonzentration ist recht problematisch.

Auch ethische Bedenken müssen bei der Arbeit mit Digital Trace Data sehr ernst genommen werden...

Deutschmann: Ja. Eine gründliche Anonymisierung ist zum Beispiel von zentraler Bedeutung, da Userinnen und User nicht immer über eine Zweitverwertung ihrer Online-Aktivitäten zu Forschungszwecken nachgedacht oder aktiv zugestimmt haben. Ein Ziel der Sonderausgabe ist es, diese Herausforderungen zu reflektieren und die Forschenden zu ermutigen, die Stärken und Schwächen von computergestützten Ansätzen kritisch abzuwägen.

Warum sollten computergestützte Ansätze in Zukunft verwendet werden?

Zagheni: Computergestützte Ansätze und digitale Daten sind das Mittel zum Zweck um wissenschaftliche Analysen zu erstellen, die den Migrierenden sowie Aufnahme- und Entsendeländern nutzen. Computergestützte Methoden einzusetzen ist wie eine 3D-Brille im Kino zu tragen: Sie fügen eine Dimension hinzu, die unsere Sicht erweitert.

In welchem Bereich erscheint Ihnen die Anwendung am vielversprechendsten?

Zagheni: Ein Bereich, in dem computergestützte Methoden und digitale Daten von großer Bedeutung waren und auch in Zukunft sein werden, ist die Analyse von Migrationsphänomenen. Dazu zählen Migrationsbewegungen, Migrationsabsichten und auch Mobilität in verschiedener geografischer und zeitlicher Granularität. Herkömmliche Daten reichen hier nicht aus. Eine weitere Datendimension innerhalb eines soliden statistischen Ansatzes hinzuzufügen, ist der Schlüssel zur Lösung.

Gibt es einen weiteren?

Zagheni: Ja. Ein zweiter Bereich ist die Analyse von Integration und Segregation. Hier wird man erheblich von den neuen Möglichkeiten profitieren, die sich durch experimentelle Umfragetypen, in Kombination mit kausalen Schlussfolgerungen und mit den Möglichkeiten der Infrastruktur des digitalen Zeitalters ergeben.    

Lassen Sie uns etwas ausführlicher über die Sonderausgabe “Computational Approaches to Migration and Integration Research: Promises and Challenges” sprechen. Welche Themen sind darin enthalten?

Deutschmann: Die Sonderausgabe versammelt eine Reihe von Themen und Fragen, die für die Migrationsforschung zentral sind: Warum wandern Menschen aus, wohin wandern sie, und welche Migrationsmuster ergeben sich daraus zwischen den Ländern weltweit? Weitere Studien untersuchen, ob sich Flüchtlingsbewegungen vorhersagen lassen, wie die Aufnahmegesellschaften auf Einwandernde reagieren, wie Menschen die Ankunft von Geflüchteten interpretieren, einordnen und diskutieren und wie sich räumliche Trennungsmuster ethnischer Minderheiten herausbilden. Ein weiterer Beitrag untersucht, ob nach Terroranschlägen Online-Beleidigungen gegen ethnische Minderheiten zunehmen. In einem anderen wird untersucht, ob Wohnen in der Nähe von Geflüchteten-Unterkünften mit der Wahl einer rechtsextremen Partei korreliert.  

Warum sind diese Themen wichtig?

Deutschmann: Die Themen decken einige der zentralen Herausforderungen ab, mit denen Gesellschaften auf der ganzen Welt heute konfrontiert sind. Ein Artikel eines Teams unter der Leitung von Mario D. Molina (New York University Abu Dhabi) untersucht etwa den Zusammenhang zwischen Wetterfaktoren wie der Höchsttemperatur in der Nacht und Migrationsentscheidungen in Mexiko. Angesichts der sich rasch verschärfenden Klimakrise ist das Verständnis solcher Zusammenhänge ein wichtiges Thema. Spannungen zwischen ethnischen Gruppen sowie Gewalt und Diskriminierung von Eingewanderten und Geflüchteten sind zentrale Probleme unserer Zeit und werden in mehreren Beiträgen in der Sonderausgabe behandelt.

Sie denken, dass die Studien auch Vermutungen, Gerüchte und Mythen widerlegen können...

Deutschmann: Ja, zum Beispiel hat die gerade erwähnte Studie, die untersucht hat, ob das Wohnen in der Nähe von Geflüchteten-Unterkünften mit der Wahl von rechtsextremen Parteien korreliert, gezeigt, dass die Korrelation sogar negativ ist: Je mehr Kontakt zu geflüchteten Personen besteht, desto geringer ist der Stimmenanteil der rechtsextremen Partei.

Welche Ansätze oder Forschungsfragen fehlen in der Sonderausgabe?

Deutschmann: Natürlich kann eine einzelne Sonderausgabe mit nur sieben empirischen Beiträgen nicht alle Aspekte der Migrationsforschung abdecken, auch nicht alle existierenden computergestützten Ansätze nutzen. Es fehlt zum Beispiel ein Beitrag, der digitalisierte historische Aufzeichnungen nutzt, was eine weitere spannende Quelle wäre. Auch Smartphone-"Sensing" - bei dem räumliche Bewegungen und sozialer Aktivitäten gemessen werden, die durch die Smartphone-Nutzung entstehen, wird in keiner der Studien verwendet. Wir hoffen aber, dass unsere Sonderausgabe weitere Forschung in diese Richtungen anregt.

Zagheni: Lassen Sie mich hinzufügen, dass computergestützte Forschung auch gut positioniert ist, um die Auswirkungen des technologischen Wandels auf das Migrationsverhalten zu bewerten. Wie wirkt sich etwa die steigende Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien auf Migrationswünsche, Migrationsergebnisse und das Wohlbefinden von Migrierenden aus? Diese Themen sprengen den Rahmen dieser Sonderausgabe, aber wir gehen davon aus, dass sie in den kommenden Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen werden.

Originalpublikation

Drouhot, L., Deutschmann, E., Zuccotti, C.V., Zagheni, E.: Computational Approaches to Migration and Integration Research: Journal of Ethnic and Migration Studies, Special Issue (2022) DOI: 10.1080/1369183X.2022.2100542

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MPIDR-Autor der Studie

Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock ist eines der international führenden Zentren für Bevölkerungswissenschaft. Es gehört zur Max-Planck-Gesellschaft, einer der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaften.