03. März 2025 | News | Interview
Altersbedingte Schwerhörigkeit in Europa
Interview mit Donata Stonkute und Yana C. Vierboom zu Bildungsungleichheiten und regionalen Unterschieden
Jeder fünfte Erwachsene in Europa ist von Hörverlust betroffen, der mit negativen gesundheitlichen Folgen wie Demenz in Verbindung gebracht wird. Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) untersucht den Einfluss von Bildung auf die Prävalenz von Hörverlust in verschiedenen europäischen Bevölkerungsgruppen. Donata Stonkute, Forscherin am MPIDR, und Yana Vierboom (Princeton University) fanden heraus, dass Bildungsungleichheiten bei Hörverlust je nach Alter, Geschlecht und Region variieren.

Die Forscherinnen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) und der Princeton University fanden heraus, dass Frauen im Alter von 50 bis 64 Jahren mit niedrigem Bildungsstand mehr als dreimal so häufig über Hörverlust berichteten. © istockphoto.com / solidcolours
Die Häufgkeit von selbst berichtetem Hörverlust nimmt mit dem Alter zu und ist bei Männern höher als bei Frauen. Menschen mit einem geringeren Bildungsniveau haben ein höheres Risiko für Hörverlust, insbesondere in Süd- und Osteuropa. Bei Frauen im Alter von 50 bis 64 Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie über Hörverlust klagen, mehr als dreimal so hoch wie bei Frauen mit hohem Bildungsniveau. Dies gilt insbesondere für Frauen in Süd- und Osteuropa.
Die Diskrepanz zwischen der Prävalenz von Hörverlust und der Nutzung von Hörgeräten ist in den verschiedenen Regionen besonders ausgeprägt. Während Nordeuropa bei der Nutzung von Hörgeräten führend ist, liegen Süd- und Osteuropa weit zurück. In diesen Regionen nutzen weniger als zwei von zehn Personen, die Anspruch auf ein Hörgerät haben, dieses auch tatsächlich.
Die Studie zeigt, dass gezielte Maßnahmen erforderlich sind, um eine gerechtere Hörgesundheit in Europa zu erreichen. Der Zugang zu Hörgeräten und Dienstleistungen muss in allen Regionen Europas verbessert werden, besonders aber im Süden und Osten. Die nordischen Länder zeigen, dass es in Europa noch ungenutztes Potenzial für ein gesundes Altern gibt.

Donata Stonkute. © MPIDR/Schulz
Donata Stonkute
Donata Stonkute ist Doktorandin in der Abteilung Bevölkerungsgesundheit des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock.

Yana C. Vierboom © MPIDR
Yana C. Vierboom
Yana Vierboom ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Office of Population Research der Princeton University, USA.
Interview
Yana C. Vierboom (YCV): Bevor wir beginnen, ist es wichtig zu erwähnen, dass wir in unserem Artikel, zwischen altersbedingtem Hörverlust und Taubheit/Hörverlust, der in einem viel jüngeren Alter auftritt, unterscheiden. Menschen, die taub geboren sind oder ihr Gehör in jungen Jahren verlieren, können ein erfülltes Leben führen, mit oder ohne Hörgeräte und insbesondere mit Gebärdensprache. Der Verlust des Gehörs im Alter kann für ältere Menschen jedoch eine sehr destabilisierende Erfahrung sein, die ihr Wohlbefinden stark beeinträchtigen kann. Diese Erfahrung wollten wir in unserer Arbeit untersuchen.
Donata Stonkute (DS): Deshalb haben wir uns in unserer Arbeit auf den selbstberichteten Hörverlust konzentriert, der unserer Meinung nach besser als objektive Messungen die unerfüllten Erwartungen an das Hörvermögen widerspiegelt, die Menschen sich wünschen, aber nicht erleben.
Was sind die größten Barrieren für hörgeschädigte Menschen?
DS: Ich würde zwei Haupthindernisse für die Behandlung von altersbedingtem Hörverlust nennen. Das erste ist die Akzeptanz, da viele Menschen ihren Hörverlust aufgrund von Stigmatisierung oder Angst vor dem Älterwerden nicht wahrhaben wollen. Dies kann dazu führen, dass Betroffene erst spät Hilfe suchen und sich nicht behandeln lassen. Das zweite Hindernis entsteht, nachdem die Entscheidung für eine Behandlung gefallen ist, insbesondere im Zusammenhang mit der Leistungserbringung. In einigen europäischen Ländern müssen Betroffene lange Wartezeiten für Hörgeräte in Kauf nehmen, oft mehrere Monate oder sogar Jahre, während sie in anderen Ländern sofort ein Hörgerät erhalten können. Die finanzielle Absicherung ist uneinheitlich; in einigen Ländern werden Hörgeräte vollständig von der Versicherung übernommen, in anderen müssen die Betroffenen die Kosten aus eigener Tasche bezahlen, was eine erhebliche Belastung darstellen kann. Die Notwendigkeit von Spezialbatterien, die in der Regel etwa wöchentlich gewechselt werden müssen und oft nur an wenigen Orten erhältlich sind, erschwert die Situation zusätzlich. Eine Kollegin berichtete beispielsweise, dass ihre Mutter 200 Kilometer fahren muss, um Batterien zu besorgen. Zusammengenommen stellen diese Faktoren erhebliche Hindernisse für den gleichberechtigten Zugang zu Hörgeräten und deren kontinuierliche Nutzung dar.
Eine wichtige Anmerkung am Rande: Hilfsmittel wie Hörverstärker können nur in bestimmten, besser kontrollierbaren sozialen Umfeldern dazu beitragen, Unannehmlichkeiten zu lindern. In lauten Umgebungen können Hintergrundgeräusche die Sprachverständlichkeit beeinträchtigen, und die Hörverstärkung reicht möglicherweise nicht aus, um die hohe Lautstärke der Umgebungsgeräusche zu überwinden. Daher sind Hörgeräte keine wirkliche „Lösung“ für Hörverlust, sondern eher ein Hilfsmittel.
In welchem Alter tritt Hörverlust im Durchschnitt auf?
DS: Wenn wir von altersbedingtem Hörverlust sprechen, dann beginnt er im Alter von etwa 60 Jahren und erreicht seinen Höhepunkt zwischen 70 und 80 Jahren.
Worauf habt ihr Euch in Eurer Studie konzentriert?
DS: Bildungsgradienten in Bezug auf gesundheitliche Folgen sind generell zu beobachten, wobei Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau anfälliger für gesundheitliche Beeinträchtigungen sind, während Menschen mit höherem Bildungsniveau oft besser geschützt sind. Die Schutzwirkung von Bildung kann jedoch je nach kulturellem, gesundheitlichem und politischem Kontext sowie zwischen Männern und Frauen variieren. Was noch nicht verstanden ist und worauf wir uns in dieser Studie konzentriert haben, ist, wie sich diese Variation speziell bei Hörverlust und der Verwendung von Hörgeräten manifestiert.
Was war die Hauptmotivation, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
YCV: Altersbedingte Schwerhörigkeit ist in vielerlei Hinsicht eine unsichtbare Behinderung, die die Lebensqualität älterer Menschen erheblich beeinträchtigen kann. Wir wissen, dass soziale Isolation für viele ältere Erwachsene ein Problem ist, und Hörverlust spielt dabei wahrscheinlich eine Rolle. Es ist vielleicht nicht mehr möglich, am Telefon zu sprechen, Gesprächen am Esstisch zu folgen, nicht mehr auf Kinder aufzupassen, weil es zu schwierig ist, das Geschwätz der Enkelkinder zu verstehen, usw. Die Forschung hat auch einen Zusammenhang zwischen Hörverlust und Demenz festgestellt.
Für viele Menschen mit altersbedingter Schwerhörigkeit kann es einen großen Unterschied machen, wenn die Krankheit erkannt wird und sie behandelt werden.
Ich selbst bin mit Anfang dreißig vollständig ertaubt. Ein Cochlea-Implantat hat mir einen Teil meines Hörvermögens zurückgegeben, aber ich lerne auch die amerikanische Gebärdensprache, eine unglaubliche Sprache, die mir eine ganz neue Welt eröffnet hat. Die Erfahrung, mein Gehör in jungen Jahren zu verlieren, hat mich dazu gebracht, mich zu fragen, wie es für ältere Erwachsene sein muss, die vielleicht nicht so leicht eine Gebärdensprache lernen können (oder deren Freunde und Familie es nicht können/wollen).
DS: Wie Yana bereits erwähnt hat, ist Hörverlust ein wichtiger Risikofaktor für Demenz. Hörverlust kann zu sozialem Rückzug führen, da es für die Betroffenen schwierig sein kann, sich an Gesprächen zu beteiligen und sie nach und nach aufhören, an sozialen Veranstaltungen teilzunehmen. Mit der Zeit kann die soziale Isolation zu kognitiven Beeinträchtigungen führen, da die Menschen nicht mehr kognitiv stimuliert und herausgefordert werden. Obwohl kognitive Veränderungen schwieriger zu beobachten und zu testen sind als körperliche, ist dies eine von mehreren bestehenden Hypothesen. Medizinische Bildgebungsstudien weisen jedoch bereits auf strukturelle und funktionelle Veränderungen im Gehirn von Menschen mit altersbedingtem Hörverlust hin.
Wichtig ist jedoch, dass altersbedingter Hörverlust ein veränderbarer Risikofaktor ist. Im Gegensatz zu den unveränderlichen Merkmalen, mit denen wir geboren werden, oder dem Alter, das wir unweigerlich erreichen, können wir die Auswirkungen von Hörverlust durch frühzeitige Intervention, Behandlung und den Einsatz von Hörgeräten verändern. Um dies zu erreichen, war es notwendig, die am stärksten gefährdeten Regionen und sozialen Gruppen in Europa zu identifizieren, was den Anstoß zu diesem Paper gab.
Welche Daten wurden für die Analyse ausgewertet?
DS: Die Untersuchung europäischer Regionen ist besonders wertvoll, da Europa selbst im Rahmen der Europäischen Union (EU) eine Vielzahl von Wohlfahrtssystemen umfasst. Während die EU bestimmte gemeinsame Politiken fördert, gibt es nach wie vor erhebliche Unterschiede in den Gesundheitssystemen, den sozialen Unterstützungsstrukturen und dem Zugang zu Ressourcen zwischen den einzelnen Ländern. Das macht Europa zu einem idealen Rahmen, um die Auswirkungen des Wohlfahrtsstaates auf die Verteilung der Gesundheit in der Bevölkerung zu testen, die im Mittelpunkt meiner Forschung steht.
Wir haben öffentlich zugängliche Daten aus dem Survey on Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) verwendet, der speziell für die Untersuchung von Gesundheitsergebnissen in Bevölkerungsgruppen ab 50 Jahren entwickelt wurde.

Gesamtbevölkerung gemessen, während die Hörgeräteträger unter den Personen ermittelt werden, die Anspruch auf Hörgeräte haben. Letztere sind definiert als Personen, die entweder angeben, ein Hörgerät zu benutzen, oder ihr Gehör als weniger gut einschätzen. © MPIDR
Was habt ihr herausgefunden?
DS: Die relativen Unterschiede beim Hörverlust je nach Bildungsniveau sind in den Altersgruppen, in denen sich altersbedingter Hörverlust bemerkbar macht, am größten (50-65 Jahre). Diese Unterschiede verringern sich jedoch später, insbesondere bei Frauen. Das kann darauf hindeuten, dass der altersbedingte Hörverlust bei Personen mit höherem Bildungsniveau später einsetzt, auch wenn dies in unserer Studie nicht direkt gemessen wurde.
Obwohl eine höhere Bildung nicht unbedingt bedeutet, dass Personen, die Hörgeräte benötigen, diese auch benutzen, sind andere Faktoren, wie z. B. der Wohnort, sehr wichtig. In Nordeuropa beispielsweise sind Hörgeräte weiter verbreitet, was zu niedrigeren Raten von selbst berichtetem Hörverlust führt. In Ost- und Südeuropa ist das Gegenteil der Fall - eine geringe Akzeptanz von Hörgeräten geht mit einer großen Häufigkeit von Hörverlust einher.
Warum sind nach Eurer Ansicht Männer häufiger von Schwerhörigkeit betroffen?
YCV: Grundsätzlich sind Männer häufiger von Hörverlust betroffen, der bei ihnen früher einsetzt und schwerer ist. Warum das so ist, ist eine gute Frage, auf die es viele Antworten gibt. Ein Teil davon ist biologisch. So schützt zum Beispiel das weibliche Hormon Östrogen vor altersbedingtem Hörverlust. Und das Innenohr ist bei Männern und Frauen unterschiedlich aufgebaut. Einiges ist aber auch soziologisch bedingt. Männer sind in der Regel lauten Geräuschen stärker ausgesetzt. Sie arbeiten in lauten Berufen. Männer hören Musik lieber über Kopfhörer und lauter als Frauen. Diese vielen verschiedenen Faktoren in einzelne Komponenten zu zerlegen, ist eine Herausforderung.
DS: Eine gute Zusammenfassung von Yana. Ich möchte nur hinzufügen, dass, obwohl wir den selbstberichteten Hörverlust gemessen haben und die beobachteten Muster mit anderen Studien übereinstimmen, die alle Arten von Hörverlust kombinieren, es starke Anzeichen dafür gibt, dass bestimmte Arten von Hörverlust (Tiefton) häufiger bei Frauen auftreten. Die Gründe für die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind, wie Yana bereits erwähnte, sowohl biologischer Natur - Hormone, Gene, physiologische Unterschiede - als auch sozialer Natur - Gesundheitsverhalten wie Rauchen ist bei Männern häufiger, Gehörgefährdungen (Lärm und ototoxische Chemikalien) sind in von Männern dominierten Berufen üblich, usw.
Inwiefern trägt höhere Bildung dazu bei, sich gutes Hören zu erhalten?
YCV: Unsere Ergebnisse sind nicht kausal. Wir wissen nicht, dass Bildung zu besserem Hören führt. Wir wissen nur, dass Bildung mit besserem Hören verbunden ist. Die Zugehörigkeit zu einer höheren sozioökonomischen Gruppe ist auch mit vielen Privilegien verbunden, wie z.B. mehr finanzielle Mittel, Zugang zu besserer medizinischer Versorgung etc. Es ist also schwer zu sagen. Aber es ist interessant, dass die Prävalenz von Hörverlust in vergleichbaren Bildungsgruppen in den europäischen Regionen unterschiedlich ist.
DS: In der Tat haben wir keine Mechanismen getestet, die Bildung und Gehör miteinander verbinden, daher ist dies spekulativ, auch wenn es auf früheren Forschungsergebnissen basiert. Zusätzlich zu dem, was Yana bereits erwähnt hat, würde ich noch den Beruf hinzufügen, wie auch im Weltbericht der WHO über das Gehör betont wird. Berufe, die sowohl durch Lärm als auch durch Chemikalien ein erhebliches Risiko darstellen, sind häufig mit körperlicher Arbeit verbunden, einem Sektor, in dem Personen mit niedrigem Bildungsniveau in großer Zahl anzutreffen sind.
Was muss sich ändern, um die Situation in diesen Regionen zu verbessern?
DS: Ein schnellerer und kostengünstigerer Zugang zu Hörgeräten und Anstrengungen zur Förderung einer kontinuierlichen Nutzung sind von entscheidender Bedeutung. Schon einfache Änderungen in der Praxis - wie die Vereinbarung eines Folgetermins beim Hörgeräteakustiker bei der Erstanpassung des Hörgerätes, um häufige Probleme wie Irritationen und Klangverzerrungen zu beheben - könnten die Situation in den am stärksten betroffenen Regionen erheblich verbessern.
Eine größere Herausforderung stellt der Abbau von Bildungsungleichheiten dar. Die Förderung der Hochschulbildung allein wird nicht zwangsläufig zu einer Verringerung der Ungleichheiten führen und könnte kleinere, unterrepräsentierte Gruppen sogar an den Rand drängen. Stattdessen könnte es wirksamer sein, den Arbeitsschutz zu stärken, eine gesunde Lebensweise zu fördern und die Angehörigen der Gesundheitsberufe über gefährdete Bevölkerungsgruppen zu informieren.
Hörverlust ist mit negativen gesundheitlichen Folgen wie Demenz verbunden, daher ist die Hörversorgung ein entscheidender Faktor für gesundes Altern. Angesichts dieser Bedeutung ist es überraschend, dass dieses Thema weitgehend vernachlässigt wurde und uns ein grundlegendes Verständnis von Hörverlust und Hörgerätenutzung in Europa fehlte. Obwohl die vorliegende Studie einige wichtige statistische Daten geliefert hat, besteht zweifellos weiterer Forschungsbedarf. Wie die vorangegangene Diskussion über die Schutzwirkung von Bildung gegen Hörverlust gezeigt hat, könnte weitere Forschung von der Untersuchung der vermittelnden Effekte finanzieller Ressourcen oder beruflicher Risiken profitieren.
Original Publikation
Stonkute, D.; Vierboom, Y. C.:
Journals of Gerontology Series B: Psychological Sciences and Social Sciences 80:3, 1–11. (2025)
