16. Januar 2025 | News | Russland
Auswanderungswillig

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Laut Medienberichten wollten nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine viele Russ*innen ihr Land verlassen. Daten dazu gibt es aber nicht. Ein Team von Wissenschaftler*innen hat nun mithilfe einer bisher in der Wissenschaft kaum genutzten Datenquelle untersucht, ob sich diese Annahme bestätigen lässt.
Die russische Invasion in die Ukraine im Februar 2022 hatte nicht nur zur Folge, dass viele Ukrainer*innen aus ihrem Land flüchteten. Russische Bürger*innen verließen ihr Land ebenfalls, aus Angst vor Mobilmachung der Streitkräfte, vor staatlichen Repressionen und vor den Folgen des damals prognostizierten wirtschaftlichen Abschwungs. Medien berichteten damals, dass viele Russ*innen ihr Land verlassen wollen, es war vom russischen Exodus die Rede. Ob dieser Exodus aber tatsächlich in so einem großen Maße stattgefunden hat, weiß man nicht. Es gibt Schätzungen, die davon ausgehen, dass mehrere Hunderttausend Russ*innen im Exil leben. Tatsächlich fehlt es aber an offiziellen Daten, um das zu bestätigen.
Diese Mediennarrative hat ein Team um Athina Anastasiadou vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung beschäftigt. Die Forschenden wollten wissen, ob sich dies wissenschaftlich belegen lässt. Da es keine offiziellen Daten zu Migrationen für Russland zu dem Zeitpunkt gab, mit denen sie hätten arbeiten können, wählten die Forscher*innen eine andere Datenquelle, die in der demografischen Forschung bisher kaum eine Rolle gespielt hat: die russische Suchmaschine Yandex. Wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidung für diese Datenquelle ist die sogenannte Theorie des geplanten Verhaltens. Der Theorie zufolge ist die Absicht etwas auszuführen der beste Prädiktor für das Handeln. Die Idee der Wissenschaftler*innen: Im digitalen Zeitalter bereiten Menschen ihre Reisen durch Online-Suchen vor. Wenn sie die Absicht haben, auszuwandern, müssten sie demnach digitale Spuren bei ihrer Suche hinterlassen, die Hinweise auf eine geplante Ausreise geben. Für ihre Studie, die in der Fachzeitschrift Demographic Research erschienen ist, untersuchten die Forscher*innen deshalb, wie häufig bestimmte mobilitätsbezogene Suchbegriffe im Zusammenhang mit wahrscheinlichen Zielländern bei Yandex eingegeben wurden. Suchmaschinendaten werden in der Demografie viel genutzt, um über internationale Mobilität zu forschen. Allerdings kommt hier meistens als Datenquelle Google Trends zum Einsatz, ein Online-Dienst der US-amerikanischen Suchmaschine Google, der Informationen darüber bereitstellt, welche Suchbegriffe von Nutzer*innen der Google-Suche wie oft eingegeben wurden. Yandex ist ein russisch-niederländisches Unternehmen mit Sitz in Amsterdam. Mit 62,1 Prozent Marktanteil ist Yandex die beliebteste Suchmaschine in Russland. Die Datenquelle von Yandex, Yandex Wordstats, ist als Datenquelle für die Forschung noch nicht verbreitet, sodass das Feststellen der „Brauchbarkeit“ dieser Daten schon ein Ergebnis der Studie ist.
Um herauszufinden, ob tatsächlich viele Russ*innen eine Auswanderung planten, haben die Forscher*innen die Anzahl der mobilitätsbezogenen Suchbegriffe kombiniert mit 48 der wahrscheinlichsten Zielländer und deren Hauptstädten, darunter die meisten Mitglieder der Europäischen Union und die unmittelbaren Nachbarländer Russlands. Viele dieser Länder sind beliebte russische Touristenziele und einige haben relativ lockere Einreisebestimmungen für russische Staatsbürger*innen. Als mobilitätsbezogene Suchbegriffe verwendeten sie Wörter, die mit der Planung einer Ausreise in Verbindung stehen, wie „Umzug“, „Arbeit“ und „Aufenthaltserlaubnis“. Auf geografischer Ebene sind die Daten, die Yandex zur Verfügung stellt, sehr detailliert. Den Wissenschaftler*innen standen Daten zu allen 83 russischen Regionen und zu den 388 Städten und Gemeinden zur Verfügung.

Geografische Variation der Anzahl mobilitätsbezogener Websuchen und Links zwischen Herkunftsstädten und potenziellen Zielländern für die dreiwöchigen Zeiträume nach der russischen Invasion in der Ukraine (Februar 2022) und der Ankündigung der militärischen Mobilisierung (September 2022). Die Größe der roten Kreise zeigt den allgemeinen Anstieg der Anzahl mobilitätsbezogener Suchanfragen für jede Stadt an, und die Dunkelheit der blauen Linien zeigt den Anstieg der Anzahl der Suchanfragen aus einer Stadt an, die jedes potenzielle Zielland angegeben hat. Der Anstieg wird als Differenz zwischen der Anzahl der Abfragen drei Wochen nach und drei Wochen vor der Invasion oder Mobilisierung berechnet. Die Karte fokussiert sich auf den westlichen Teil von Russland, weil sich dort die größeren Städte befinden. © MPIDR
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Die Forscher*innen stellten fest, dass die Suchdaten Hinweise darauf geben, dass kurz nach Beginn des Einmarschs der russischen Truppen in die Ukraine im März 2022 und unmittelbar nach dem Start der Mobilmachung der russischen Armee im September 2022 deutliche Anstiege bei den Suchanfragen zu verzeichnen waren, was auf ein gestiegenes Interesse an einer Ausreise aus dem Land hindeutet.Besonders viele Suchanfragen gab es für Länder, in denen bereits viele Russ*innen leben und für Länder in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland (siehe Abb. 1). Auffällig ist zudem, dass der Anstieg des mobilitätsbezogenen Suchverhaltens nach Ankündigung der militärischen Mobilmachung deutlich größer war als nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine (siehe Abb. 2).

Anteil der gesamten wöchentlichen mobilitätsbezogenen Suchanfragen, die auf Stadtebene (graue Linien) in Russland durchgeführt wurden und ihr Durchschnitt (schwarze Linie). Die rot gepunkteten Linien zeigen den 24.02.2022 (Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine) und den 21.09.2022 (Beginn der Mobilmachung) an. © MPIDR
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Die Forscher*innen verglichen die Daten außerdem mit Daten der Vereinten Nationen zu russischen Auswanderern und zogen zusätzlich Daten der russischen Statistikbehörden zu sozioökonomischen Faktoren hinzu. Sie stellten fest, dass die Zahl der in anderen Ländern ankommenden russischen Migrant*innen tatsächlich in einem Zusammenhang zum Suchverhalten steht. Sie fanden außerdem heraus, dass Länder in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland häufiger aufgesucht wurden. Dies lässt sich damit erklären, dass die Ausreise in näher gelegene Regionen geringere Kosten verursacht. Man weiß aber aus der Migrationsforschung auch, dass Migrant*innen häufiger in Länder ziehen, in denen es schon viele Menschen ihrer Nationalität gibt, was ebenfalls in den an Russland angrenzenden Ländern gegeben ist. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass in Großstädten offensichtlich mehr Menschen mit dem Gedanken spielten auszuwandern (und dies dann vielleicht auch umsetzten), was nachvollziehbar ist, weil es in Großstädten meist auch Flughäfen gibt. Außerdem haben in wohlhabenderen Gegenden mehr Menschen entsprechende Suchanfragen gestellt, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sozioökonomisch besser gestellte Menschen eher eine Auswanderung in Erwägung ziehen. Das wiederum könnte ein Hinweis auf einen möglichen Braindrain sein.
Die Forscher*innen weisen allerdings darauf hin, dass die Daten von Yandex Wordstats, ähnlich wie die von Google Trends, mit einer Reihe von Einschränkungen verbunden sind. Online-Suchdaten spiegeln nicht das Verhalten und die Vorlieben der gesamten russischen Gesellschaft oder der Personen wider, die die Suchanfragen durchführen. Außerdem müssen Suchanfragen nicht unbedingt eine Auswanderung zur Folge haben. Darüber hinaus seien die Erhebung und Produktion der Daten nicht vollständig transparent, sodass sie keine Aussagen über die Qualität der Datengewinnung treffen könnten, so die Forscher*innen.
Originalpublikation
Anastasiadou, A., A. Volgin and D.R. Leasure: War and mobility: using Yandex web searches to characterize intentions to leave Russia after its invasion of Ukraine. Demographic Research 50(2024)8, 205–220.
DOI: 10.4054/DemRes.2024.50.8