14. Juli 2014 | News | Neue Veröffentlichung

Keine Kitas, keine Kinder

Dass deutsche Frauen so wenig Nachwuchs bekommen, liegt in erster Linie an fehlenden Betreuungsplätzen

Viele Demografen waren in der Vergangenheit zu dem Schluss gekommen, dass die niedrige Geburtenrate in Deutschland hauptsächlich die Folge einer kulturellen Besonderheit ist. Dass sie mit dieser Annahme womöglich irren, legt eine MPIDR-Studie nahe. © suschaa / photocase.de

(Der folgende Text basiert auf dem Artikel "Keine Kitas, keine Kinder" des MPIDR-Forschers Sebastian Klüsener und ist mit kleineren Änderungen ebenfalls erschienen in der Ausgabe 02/2014 der vierteljährlichen Reihe Demografische Forschung aus Erster Hand.)

Im europäischen Vergleich ist die Geburtenrate in Deutschland seit Jahrzehnten eher niedrig. Ursache hierfür sind jedoch nicht etwa kulturelle Einflüsse, sondern vielmehr Defizite in der Familienpolitik. Das zeigt ein Vergleich mit den deutschsprachigen Regionen im Nachbarland Belgien, den Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock vorgenommen haben.

Ein Leben ohne Kinder: Manche Paare ziehen es dem anstrengenden Alltag mit einer Familie vor. Sie genießen ihren Beruf, den Luxus und die Freiheit, die ihnen ihr kinderfreier Lebensstil ermöglicht. Vor allem in den deutschsprachigen Ländern genießen die sogenannten Dinks (double income, no kids) ein hohes Prestige.

Viele Demografen waren daher in der Vergangenheit zu dem Schluss gekommen, dass die niedrige Geburtenrate in Deutschland hauptsächlich die Folge einer kulturellen Besonderheit ist. Dass sie mit dieser Annahme womöglich irren, legt jetzt eine Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock nahe.

Ein Team um Sebastian Klüsener konnte zeigen, dass Frauen in den kulturell deutsch geprägten Regionen Belgiens deutlich mehr Kinder kriegen als die Frauen hierzulande. Da Belgien anders als Deutschland seit langem über ein gut ausgebautes Betreuungssystem verfügt, sehen Klüsener und seine Kollegen vor allem einen Grund für den hiesigen Mangel an Kindern: Es gibt zu wenige Kitas.

Für ihre Studie haben die Demografen Daten des belgischen Zensus aus dem Jahr 2001 und des deutschen Mikrozensus von 2008 analysiert. Anhand dieser repräsentativen Haushaltsbefragungen untersuchten sie bei Frauen der Jahrgänge 1935 bis 1959 die Geburtenraten in Deutschland, Belgien und speziell in den beiden ostbelgischen Kantonen Eupen und Malmedy. Diese liegen an der Grenze zu Deutschland und haben Deutsch als Amtssprache. Ihre rund 75.000 Bewohner sprechen zuhause und auch in der Schule Deutsch, sie konsumieren häufig deutsche Massenmedien und stehen in regelmäßigem Kontakt zu ihren Verwandten jenseits der Grenze. Gleichzeitig können sie seit fast einem Jahrhundert die belgischen Familienleistungen in Anspruch nehmen.

„Wären kulturelle Normen ausschlaggebend für die Geburtenrate, müsste sie in der deutschsprachigen Region ähnlich niedrig wie in Deutschland sein“, sagt Klüsener. Doch dem ist nicht so: Während die westdeutschen Frauen der Geburtsjahrgänge 1955 bis 1959 im Alter von fünfzig Jahren im Schnitt nur 1,65Kinder bekommen hatten, waren es bei den Bewohnerinnen Eupens und Malmedys 1,88. Damit liegen sie sogar noch leicht über dem Niveau des restlichen Landes: Die gleichaltrigen Belgierinnen hatten es im Schnitt auf 1,84 Kinder gebracht (s. Abb.1). Vor allem der Schritt von zwei zu drei Kindern wurde überall in Belgien öfter vollzogen als in Deutschland.

Abb. 1: Frauen in den deutschsprachigen Regionen Belgiens (ausgenommen deutsche Staatsbürgerinnen oder in Deutschland Geborene) bekommen im Schnitt ähnlich viele Kinder wie Belgierinnen. In Deutschland ist die Geburtenrate hingegen deutlich niedriger. © Quellen: belgischer Zensus 2001, deutscher Mikrozensus 2008, eigene Berechnungen.

„Ein gutes Angebot öffentlicher Kinderbetreuung scheint für die endgültige Zahl der Kinder pro Frau wesentlicher zu sein als die gelebte deutsche Kultur“, sagt Klüsener. Denn während sich die deutsche und belgische Familienpolitik bei Leistungen wie Kindergeld und Elternzeit ähneln, unterscheidet sich das Betreuungssystem enorm.

Seit 1950 wurden die Angebote in Belgien kontinuierlich erweitert, was unter anderem dazu führte, dass dort zwanzig Jahre später schon 95 Prozent aller Vierjährigen eine Kita besuchten. In Deutschland waren es zu dieser Zeit erst ein Drittel der Kinder. Die Diskrepanz hält bis heute an: Während 2008 in Belgien 43 Prozent der unter Dreijährigen öffentlich betreut wurden, waren es in Deutschland im gleichen Jahr nur 10 Prozent.

Andere Effekte auf die Geburtenrate konnten die Forscher um Klüsener weitgehend ausschließen. So ist zum Beispiel bekannt, dass eine bessere Bildung der Frauen im Allgemeinen mit einer geringeren Anzahl an Kindern einhergeht. Dieser Zusammenhang wurde auch in der aktuellen Studie deutlich: Je gebildeter die untersuchten Frauen waren, desto größer war die Chance, dass sie kinderlos blieben. Allerdings ist dieser Effekt in Deutschland sehr viel deutlicher zu beobachten als in den deutschsprachigen Region-en Belgiens und im restlichen Teil des Landes (s. Tab. 1).

Tab. 1: Die Tabelle beleuchtet den Einfluss der Bildung auf die Wahrscheinlichkeit, dass die Frauen in den untersuchten Regionen in ihrem Leben mindestens ein Kind zur Welt gebracht haben. Je gebildeter die Frauen sind, desto größer ist demnach die Chance, dass sie kinderlos bleiben. In Belgien ist dieser Effekt aber weniger ausgeprägt als in Westdeutschland. Alle Werte gelten als hochsignifikant. © Quellen: belgischer Zensus 2001, deutscher Mikrozensus 2008, eigene Berechnungen

„Aus anderen Studien wissen wir, dass Kinderbetreuungsangebote gerade für gut ausgebildete Mütter wichtig sind“, sagt Michaela Kreyenfeld, die an der Untersuchung beteiligt war. „Unsere Ergebnisse passen in dieses Bild.“ Das belgische Betreuungssystem scheine Paare in ihrer Entscheidung für ein Leben mit Kindern zu unterstützen, weil es die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtere, lautet denn auch das Fazit der Demografen. Und somit ist es kein Wunder, dass in Eupen und Malmedy Anfang des Jahrtausends knapp zwei Drittel der Mütter von null- bis zweijährigen Kindern erwerbstätig waren. In Westdeutschland war es gerade mal ein Drittel.

Ko-Autor der wissenschaftliche Studie:
Sebastian Klüsener

Basierend auf der Originalveröffentlichung:
Sebastian Klüsener, Karel Neels, Michaela Kreyenfeld: Family Policies and the Western European Fertility Divide: Insights from a Natural Experiment in Belgium. Population and Development Review 39(4): 587–610 (Dezember 2013)
DOI: 10.1111/j.1728-4457.2013.00629.x
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