03. September 2021 | Pressemitteilung

Lebenserwartung: Kontinuierlicher Anstieg seit 1750

Studie zur Lebensdauer von Gelehrten zeigt Folgen von Kriegen und Krankheit auf. © iStockphoto.com/aluxum

Bereits zum Ausgang des Mittelalters konnten Gelehrte im Heiligen Römischen Reich mit einer Lebensdauer von etwa 60 Jahren rechnen. Allerdings stieg ihre Lebenserwartung bis in das 18. Jahrhundert nicht weiter an. Im Gegenteil: Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges kam es zu einer einschneidenden Mortalitätskrise.

(Der folgende Text basiert auf der Publikation Leaders and laggards in life expectancy among European scholars from the sixteenth to the early twentieth century des MPIDR-Forscher Robert Stelter und wurde auch schon in der Ausgabe 02/2021 der Demografischen Forschung aus Erster Hand veröffentlicht.)

Während wir heute recht genau wissen, wie sich die Lebenserwartung in verschiedenen Ländern und Gegenden entwickelt, sind die Daten für die Vergangenheit oft sehr lückenhaft: Wie lange lebten die Menschen vor 500 Jahren? Und welche Faktoren haben die Lebenserwartung positiv oder negativ beeinflusst?

Um ein bisschen mehr Licht ins Dunkel zu bringen, haben Robert Stelter und Mikko Myrskylä vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung sowie David de la Croix von der Université catholique de Louvain einigen Aufwand betrieben: Aus digitalen und analogen Quellen suchten die Forscher, Daten von über 30.000 Gelehrten zusammen, die in der Zeit vom Mittelalter bis 1900 geboren wurden und an Universitäten oder Akademien der Wissenschaften aktiv waren. Ihr Untersuchungsgebiet grenzten sie dabei auf das Heilige Römische Reich in seinen Grenzen von 1648 sowie die Niederlande ein.

Mit den gesammelten Daten zu Geburtsjahr, Ersteintritt in eine Akademie oder eine Universität sowie zum Sterbejahr konnten Stelter und seine Kollegen die Lebenserwartung der Gelehrten berechnen. Da viele von ihnen bei ihrer Erstberufung 30 Jahre oder jünger waren, errechneten die Forscher die verbleibende Lebenserwartung im Alter von 30 Jahren. Zudem wurden die Daten geglättet und Durchschnittswerte aus 25 Jahren gebildet.

Der schraffierte Bereich kennzeichnet den Zeitraum, in dem der Dreißigjährige Krieg einen Einfluss auf die Lebenserwartung gehabt haben könnte.

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Die rund 400-jährige Entwicklung der Lebenserwartung, die mit Hilfe der Daten gezeichnet werden kann, lässt sich grob in drei Phasen einteilen (s. Abb. 1): Von 1500 bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts stagnierte die Lebenserwartung, wobei der Rückgang zu Beginn des 16. Jahrhunderts hauptsächlich auf Selektionseffekte in den Daten zurückzuführen ist. Vollständige Daten sind häufig nur von besonders bekannten Gelehrten erhalten, die eine vergleichsweise hohe Lebenserwartung hatten.

Während die Lebenserwartung vor dem 18. Jahrhundert generell stagnierte, war sie jedoch keinesfalls stabil. So ging die verbleibende Lebenserwartung der Gelehrten im Alter von 30 Jahren zu Anfang des 17. Jahrhunderts um mehrere Jahre zurück: Sie sank von über 30 Jahren auf unter 27, also von einer Gesamtlebenserwartung von über 60 auf 57 Jahre. Stelter, de la Croix und Myrskylä vermuten, dass diese Entwicklung vor allem auf den Dreißigjährigen Krieg mitsamt den einhergehenden Epidemien und Hungersnöte zurückzuführen sein könnte. So sind etwa zahlreiche Pestausbrüche während dieser Zeit gut dokumentiert.

Ein kontinuierlicher Anstieg der Lebenserwartung setzt schließlich ab Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Bis 1918 stieg die durchschnittliche verbleibende Lebensdauer der Gelehrten um beachtliche 7,5 Jahre auf insgesamt 69 Jahre.

Mediziner hatten vermutlich aufgrund ihres häufigen Kontaktes mit Krankheitskeimen eine geringere Lebenserwartung als Gelehrte anderer Fachgebiete. Weitere Informationen unter © MPIDR

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Neben der allgemeinen Entwicklung der Lebenserwartung zeigen die Autoren, dass die Mortalität nicht zwangsläufig für alle Gelehrten gleich war (s. Abb. 2). So bildeten Mitglieder der Akademien der Wissenschaften eine Bildungselite in der Elite. Als die Lebenserwartung im 18. Jahrhundert zu steigen begann, erfreuten sie sich eines Mortalitätsvorteils gegenüber jenen Gelehrten, die „nur“ an Universitäten aktiv waren. Der soziale Status könnte also schon vor über 300 Jahren einen Einfluss auf die durchschnittliche Lebensdauer gehabt haben.

Auch bei den wissenschaftlichen Disziplinen der Gelehrten lassen sich Unterschiede erkennen. So liegt die durchschnittliche Lebensdauer von Medizinern – sowohl in Akademien als auch in Universitäten – in der Regel deutlich unter der von Gelehrten anderer Fachrichtungen.

Dieser Nachteil könnte auf ein Zusammenspiel von häufigerem Kontakt zu Krankheitserregern und dem noch fehlenden medizinischen Wissen über Krankheitskeime resultieren. Erst mit der Verbreitung der Keimtheorie in der jüngeren Vergangenheit reduzierte sich das Infektionsrisiko, und die Mediziner schlossen bei der Lebenserwartung zu den Gelehrten anderer Fachgebiete auf.

All diese Aussagen sind selbstverständlich auf eine recht genau definierte, aber selektive Bevölkerungsgruppe beschränkt: Denn Gelehrte hatten nicht nur einen besonderen sozialen Status, sie waren in dem untersuchten Zeitraum auch fast ausschließlich männlich und lebten in der Regel in der Stadt. Dennoch zeigt die Studie eindrucksvoll, wie große Kriege und Pandemien die Lebensdauer beeinflussen können und dass die Lebenserwartung bereits ab Mitte des 18. Jahrhunderts anstieg – und damit bereits vor der Industrialisierung in Mitteleuropa.

Originalpublikation

Stelter, R., de la Croix, D., Myrskylä, M.: Leaders and laggards in life expectancy among European scholars from the sixteenth to the early twentieth century. Demography 58(2021)1, 111–135. DOI: 10.1215/00703370-8938107

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